Der Rorschach-Test

1921 brachte Hermann Rorschach den sogenannten Rorschach-Test heraus. Seiner Ansicht nach ermöglichten die subjektiven Antworten auf seine "Tintenklecksbilder", Rückschlüsse auf Wahrnehmungsvermögen, Intelligenz und emotionale Charakteristika der untersuchten Personen.

Er experimentierte zunächst mit verschiedenen Klecksbildern, die er Klexographien nannte. Seine Testpersonen waren Patienten und Angestellte der Klinik Herisau. Schliesslich ergab sich eine Serie von zehn Klecksbildern, die sich für seine Fragestellungen als besonders geeignet erwiesen hatten und die er deshalb als definitive Serie bestimmte und auf Karton aufziehen liess. Er gab den untersuchten Personen die Tafeln eine nach der anderen in die Hand mit der Frage: «Was könnte das sein?» Die Antworten wurden protokolliert und nach folgenden, vor allem formalen Kriterien ausgewertet:

- Wurde der Klecks als Ganzes oder in Teilen erfasst und gedeutet?
- Ist die Antwort durch die Form des Kleckses allein oder auch durch die
  Farbe und allenfalls durch in das Bild hineingesehene Bewegung 
  mitbestimmt?
- Was wird gesehen ?

Die formalen Kriterien wie Ganz- oder Detaildeutung, Form-, Farb- und Bewegungseinflüsse hatten für Rorschach viel mehr Gewicht als der sachliche Inhalt der Antworten. Bei der Auswertung wandte er ein statistisches Verfahren an und berechnete die formalen Einflüsse und die Inhalte nach zahlenmässiger Vertretung im Protokoll und nach ihrem Verhältnis zueinander. Er stellte fest, dass die getesteten Personen bei der Lösung der Aufgabe recht verschieden vorgingen. Die Art, wie sie die mehrdeutigen Kleckse interpretierten, schien von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen der betreffenden Person abhängig zu sein, und es zeigte sich, dass sich daraus typische Verhaltensmuster bestimmter Personengruppen ableiten liessen, zum Beispiel Personengruppen aus der "Normalbevölkerung" mit verschieden ausgeprägter Intelligenz oder verschiedenen Begabungen oder verschiedene "Patientengruppen" wie Schizophrene, Epileptiker und Manisch-Depressive.

Der Rorschach-Test ist umstritten. Seine Befürworter sehen in ihm ein hochwertiges Testverfahren, das eine tiefgehende Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit erlaubt. Seine Kritiker halten dem Test die mangelnde Reliabilität entgegen.

Rorschach war nicht der erste, der Tintenkleckse zu wissenschaftlichen Versuchszwecken benützte. Bereits 1895 setzten Ärzte und Psychologen diese zur Prüfung von Vorstellung und Phantasiereichtum im Rahmen von Intelligenzprüfungen bei Kindern ein.

Wie verschiedene Umfragen bei klinischen PsychologInnen in der Berufspraxis zeigen, gehören der Rorschach-Test und die projektiven Methoden nach wie vor zum Repertoire vieler Psychologinnen und Psychotherapeuten. In der Schweiz wird der Rorschach-Test am häufigsten im engeren und weiteren Umfeld der klinischen Psychologie und Psychiatrie eingesetzt. Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld ist die Personalselektion und Laufbahnberatung.


Der "Rorschach-Test" im Kontext der Kunst

Unbeeindruckt von den wissenschaftlichen Kontroversen zieht der Rorschach-Test bis heute das Interesse von KünstlerInnen und KunsthistorikerInnen auf sich. Zufallsbilder und das ihnen zugrundeliegende Wahrnehmungsphänomen spielten im Lauf der Jahrhunderte eine zunehmend wichtigere Rolle in der Kunst. Bei modernen und zeitgenössischen Künstlern finden sich mehr oder weniger explizite Bezüge zu "Rorschachs Klecksen", zum Beispiel bei Andy Warhol, Morris Louis, Elspeth Lamb.

1957 wurde das Rorschach-Archiv gegründet, das von der Universitätsbibliothek Bern betreut wird.


(Textauszüge aus: Rita Signer, Archiv und Sammlung Hermann Rorschach, hrsg. von der Universitätsbibliothek Bern, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern.)