Sommerakademie im Zentrum Paul Klee
16. – 26. August 2012


TIN SOLDIERS AND NIXON COMING

„Dieses Scheinwerferkind könnte, grafisch dargestellt, ein Komet sein, dessen Schweif vorausweist...“ (Marcel Duchamp in: „Jura-Paris-Strasse”)

Im Jahr 1912 brach Marcel Duchamp als eine Art „Scheinwerferkind“ zu einer Reise durch den Jura auf und erdachte sich eine Parallelwelt, um imaginär seine ambivalente Beziehung zur Wehrpflicht zu verarbeiten. Duchamps „Jura-Paris-Strasse“, bestehend aus einer Anzahl „notes et communiqués“, diente gewissermassen zur Vorbereitung einer militärischen Erkundungsreise. Die „Strasse“ illustriert jedoch vor allem sein Interesse am Prozess eines synthetisierten menschlichen Potenzials, an mechanischen Systemen, an den Dimensionen von Risiko und Chance, an der Unberechenbarkeit und an der Anordnung von Gegebenheiten; Themen, die er als Teil eines vernetzten Ganzen sieht. 

Untersucht man Duchamps Recherchen, bietet sich die seltene Gelegenheit, seine politische Haltung und sein Interesse an der damals wachsenden militärischen Eskalation zu verfolgen. Gleichzeitig enthüllen sie die Auslöser für seine breite Vorstellungskraft in den Themengebieten der Erotik, der Mechanisierung und der Spekulation über Dimensionalität. Seine Gedankenimpulse in “Jura-Paris-Strasse“ bieten auch die Grundlage für die Methoden der Situationisten, „Psychogeographie“ und „Détournement“, die auch massgebende Praktiken bei der Analyse der Paradigmenwechsel in der heutigen Kunstwelt sind: vom kunstinstitutionell-ökonomischen Paradigma zum kulturell-ad-hoc-politischen Paradigma.

Die Sommerakademie im Zentrum Paul Klee 2012 unter dem Titel "Tin Soldiers and Nixon Coming" erweiterte die Diskussion über den historischen Rahmen von Duchamps Einstellung zur individuellen Wehrpflicht hinaus. Seine Erkundungen sollten im Zusammenhang mit heutigen dramatischen Ereignissen ergründet werden. 

“Tin Soldiers and Nixon Coming ...„ ist ein Zitat aus dem von Neil Young 1970 geschriebenen Songtext „Ohio“, der von der Erschiessung von vier protestierenden Studenten an der Kent State Universität handelt. 
Der Titel der Sommerakademie sollte dazu ermuntern, die Relevanz von Duchamps abstrakten Themen im Verhältnis zu den radikalen Ereignissen in der jüngsten globalen Entwicklungen zu reflektieren: Arabischer Frühling, Occupy-Bewegungen, Auflösung Europas, Implosion intellektueller und kritischer Stringenz unter dem Druck eines übergreifenden Mainstreams, fatale Gleichgültigkeit gegenüber Klimaproblemen. 
Neil Youngs Liedtext, komponiert während des eskalierenden Vietnamkriegs, in einer Zeit der weit verbreiteten Wehrpflichtverweigerung, bezieht sich auch auf den Anfang einer Ära der postglobalen kapitalistischen Moderne und der Ölkrise von 1973. Damals begannen sich auch raum-zeitliche Dimensionen für unsere gegenwärtigen Praktiken zu entwickeln. 

Die „Jura-Paris-Strasse“ bot sich als eine Denkplattform an, von der aus beispielsweise die Begegnung mit dem Exotischen, das Thema der wissenschaftlichen Unwahrscheinlichkeit, der generellen Einschränkung rationalistischer Verfahren, die Vorstellungen der Täuschung, des Zufalls und des Strategischen erkundet oder gar erfahren werden können. Auf einer abstrakteren Ebene sind diese Themen verwoben mit dem, was die gewöhnliche Reise einer Gruppe oder eines Einzelnen mit sich bringen könnte: wechselnde persönliche Beziehungen in der Ungewissheit der räumlichen Veränderungen, spezifischere Beziehungen, die durch territoriale Vorteile determiniert sind, Sprache des Aufbegehrens, versteckte Weisen des Ansprechens, koloniale Eroberung, Metapher des Menschen als Maschine (oder deren Anfechtung), Mythologie, hierarchische Kontrolle (und der Verzicht darauf), Vorbereitung auf das Unberechenbare, soziale Spannungen bei gemeinsamen Essen, Überzeugung, blindes Vertrauen, Gender-Probleme und Nationalismus.

Zugleich liess die “Jura-Paris-Strasse“ auf eine abstrakte Reise (bzw. ein abstraktes Reisekonzept) durch ein Gebiet schliessen, eine Reise, die die  Notwendigkeit bedeutet, ein informelles Netzwerk zu skizzieren mit unvorhergesehenen Treffpunkten, wie zufälligen öffentlichen Cafés oder privaten Mensen und zwar durch die physische Besetzung von etablierten Orten, die durch Übung und Koordination in ungewohnten Dimensionen erzielt wird. Obschon Duchamps Notizen zur "Jura-Paris-Strasse" vom dimensionalen Raum und der Kommunikation aus der Distanz sprechen, beinhalten sie auch den prosaischeren Charakter der Route, Wetterbedingungen, Reisedauer, Liaisons und Reisegefährten, das Angenehme der Reise wie auch die Sprache des Perversen (Armeejargon) und die Autofahrten mit dem Ziel der Verbindung von Erotik und elektromagnetischer Ingenieurstechnik und letztlich die Spekulation über Dimensionalität. 

Im Laufe des zehntägigen Prozesses der Sommerakademie haben die Übertragung der Themen des Denkens, Tuns, Planens, Betrachtens und Konsumierens die Form von abstrakten Konstellationen angenommen, mit offenen Plänen, Ausflügen, kulturellen Begegnungen, Workshops, Mahlzeitvorbereitungen und Diskussionen. Mit einer stets wachsamen Haltung und im Bewusstsein des Unumgänglichen ist es letztlich eher darum gegangen Erfahrungen zu sammeln, als etwas abschliessend festzuhalten zu wollen.